Wir lebten im ehemaligen Sperrgebiet der DDR, also nahe an der ehemaligen Grenze nach Westdeutschland. Sperrgebiet bedeutete, dass da keiner so ohne Weiteres hinein konnte, es sei denn, man wohnte selbst dort. Besucher mussten einen Passierschein beantragen. Das Beantragen konnte sich schon mal über ein paar Wochen hin ziehen. Also bekamen wir selten Besuch von außerhalb des Sperrgebietes. So sah ein Passierschein aus:


Wenn wir mit dem Bus zum Einkaufen in die Kreisstadt gefahren sind, konnten wir von einer bestimmten Stelle aus die Veste Coburg sehen. Das war schon der „Westen“. Coburg war gar nicht so sehr weit weg und doch für alle Zeiten unerreichbar für uns. Meine Oma hat mir erzählt, dass vor Coburg noch die Dörfer Roßfeld und Rodach kommen. Das habe ich mir gemerkt, denn in unseren Schulatlanten waren diese Orte nicht zu sehen.
Bei der Rückfahrt in unser Dorf (die Kreisstadt lag außerhalb des Sperrgebietes), kamen wir wieder am Kontrollpunkt vorbei. Wenn der Schlagbaum zu war, wurden manchmal die Fahrgäste kontrolliert. Sie mussten ihren Personalausweis bzw. ihren Passierschein zeigen. Dabei hatte ich immer ein mulmiges Gefühl.
Im Dorf merkten wir Kinder nichts vom Sperrgebiet. Wir gingen hier in den Kindergarten und zur Schule und trieben uns an den Nachmittagen irgendwo draußen herum. Wir spielten Federball und Völkerball auf der Straße, weil ja kaum ein Auto fuhr. Nur wenige Familien hatten ein Auto. Zur Arbeit in die Stadt fuhren die Leute mit dem Bus, das übliche Verkehrsmittel. Wenn die Busse um 17.00 Uhr die Berufstätigen wieder nachhause brachten, mussten wir kurzzeitig von der Straße gehen. Es kamen dann mehrere Busse kurz hintereinander, zwei hielten bei uns an der Bushaltestelle, die anderen fuhren gleich weiter in die nächsten Dörfer. „Arbeiterbusse“ wurden sie genannt und sie waren immer proppevoll. 17.20 Uhr kamen dann noch mal ein paar Busse, dann war erst mal wieder Ruhe und wir konnten weiter Federball, Rollerkunstfahren und Fahrradfangeles auf der Straße spielen.
Ich denke sehr gerne an die Zeit. Obwohl unser Dorf mit ca. 600 Einwohnern nicht sehr groß war, hatte ich 13 Schulkameraden hier. Es gab genug Spielkameraden und wir wussten uns zu beschäftigen. Keiner wäre je auf die Idee gekommen seine Eltern zu fragen: was soll ich denn spielen/machen? Uns ist immer was ein gefallen, manchmal natürlich auch Blödsinn. Unsere Gasse war am Nachmittag voller Kinder. Wenn es um 18.00 Uhr geläutet hat, musste ich heim, da gab es Abendbrot. Danach durfte ich im Sommer noch mal raus. Das schlimmste Verbot war für mich, wenn ich nicht raus durfte zu den anderen Kindern, weil ich was ausgefressen hatte. Einmal habe ich zum Beispiel ein paar Kinder mit in unsere Scheune genommen und wir sind oben vom Balken runter ins Heu gesprungen mit einem Regenschirm in der Hand, wie Pan Tau. Wir sind erwischt worden. Da gab´s Ärger! Erstens war das eine beachtliche Höhe vom Balken herunter, zweitens hätte da noch eine vergessene Heugabel liegen können und außerdem war das Heu als Futter für die Tiere gedacht, da springt man nicht drin rum, und überhaupt war die Scheune tabu als Spielplatz. So war das eben und ich sah das ein.
Ich fühlte mich gücklich, behütet und erlebte eine ganz normale Kindheit. Bewusst nahm ich die Sperrzone und deren Einschränkungen erst im Jugendalter wahr. Als ich dann ab Ende 8. Klasse das erste Mal zum Jugendtanz durfte und später die ersten Verabredungen mit Freunden ausmachte, achtete ich schon darauf, mir möglichst keinen aus dem Sperrgebiet zu suchen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte …
Unser Dorf war bis 1974 im Sperrgebiet, danach ist der Kontrollpunkt ein paar Kilometer weiter zurück versetzt worden bis zwischen dem nächsten und übernächsten Ort.
Das war für unsere Familie nicht so günstig, denn nun mussten wir selbst Passierscheine beantragen, wenn wir die Oma besuchen wollten …
Heute fahre ich wie selbstverständlich durch Roßfeld und Rodach nach Coburg. Es gibt keine Staatsgrenze mehr, nur noch die Landesgrenze zwischen Thüringen und Bayern. Der ehemalige Grenzstreifen erinnert noch an die alten Zeiten. Ich muss oft an Oma denken, sie hat die Wende nicht erlebt. Manchmal kann ich es selbst noch nicht glauben, dass wir jetzt überall hin fahren dürfen. Es ist immer noch wie ein kleines Wunder für mich. Auch wenn ich mich als Kind und Jugendliche nie „eingesperrt“ gefühlt habe in der DDR, war doch tief in mir drin immer der Wunsch, die Welt zu sehen, all die Orte zu besuchen, die ich nur von Postkarten her kannte oder die ich mir voller Fernweh im Atlas ausgesucht hatte. Was für ein Glück, dass ich an einige dieser Orte schon ein Häkchen für „ich bin da gewesen“ machen kann.
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