Ziemlich heiße Fotos

Es war eher spontan, dass wir an diesem 25. Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands nach Mödlareuth gefahren sind. Für mich war es in diesem Jahr der zweite Besuch dort. Als ich im Juni im Rahmen eines Seminars dort war, den Film im Museum gesehen und danach die Führung mitgemacht hatte, spürte ich ein beklemmendes Gefühl, fast wie fremdschämen oder so. Die anderen Seminarteilnehmer waren allesamt aus den „alten“ Bundesländern, ich der einzige „Ossi“. Klar ist inzwischen alles Geschichte, was damals war, vergessen ist es jedoch nicht.

Als mein Mann und ich ankamen, war ich erst einmal baff: ich hatte mit vielen Leuten gerechnet. Aber nicht damit, dass dieses Ereignis wie ein Volksfest mit großem Zelt, Blasmusik usw. gefeiert wird. Ganz schön Stimmung war da! Die vielen Menschen, die Musik – so richtig in sich gehen war da nicht. Dieses Gefühl, dass mich im Juni beschlichen hatte, stellte sich nicht wieder ein.

Nach Museum, den Ausstellungen und Rundgang setzten wir uns in ein Zelt etwas abseits vom großen Trubel und beobachteten das Treiben. Ich musste an den Film „Tannbach“ denken. Und ich musste an all die Menschen in meinem Leben denken, die ich nie kennen gelernt hätte, wenn es diese Grenze noch gäbe. Das stimmte mich erst nachdenklich und dann sehr froh. Ja, diesmal hatte ich Leichtigkeit und ein Freiheitsgefühl in mir. Nun wollte ich noch die Politprominenz sehen – wenn ich schon mal hier bin. Also machten wir uns auf Richtung großes Festzelt.

Die Kapelle spielte gerade „Kennst du die Perle, die Perle Tirols …“ Klar kenne ich die. War schon mal in Kufstein. Also sang und jodelte ich in meinem gerade gewonnen Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit auf dem Weg zum Zelt laut mit (das Jodeln hört sich bei mir aber eher kläglich an – so eine Art Jammerjodel oder so – egal, kanns halt nicht wirklich), was meinen Mann veranlasste, etwas Abstand von mir zu nehmen (nein, nein, die gehört nicht zu mir – grins).

Es schien gerade der richtige Augenblick gewesen zu sein, denn gerade, als wir auf den Eingang des Zeltes zu gingen, kamen uns von der anderen Seite her, von Polizei flankiert und voran ein Kameramann, die Herren Söder und Friedrich mit ein paar anderen Herrschaften entgegen. Weil ich sie mal von ganz nah sehen wollte, schloss ich mich kurzerhand dem Tross an, als ob ich dazu gehörte. Also einen Anzug hatte ich nicht an, Jeanshose unten, Jeanshemd oben, aber meine Kamera, die ich demonstrativ etwas höher vor mir hielt, ließ vermutlich den einen oder anderen Besucher glauben, dass ich von der Presse wäre – grins.

Am Eingang des Zeltes hörte ich gerade den Moderator drinnen am Mikrofon sagen, dass sich doch die Leute zum Empfang des Bayrischen Staatsministers Markus Söder und des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Hans-Peter Friedrich erheben mögen. Die Blaskapelle spielte einen Marsch und der Einzug ins Zelt erfolgt durch eine sich bildende Gasse Beifall klatschender Menschen. Da ich so dicht hinter den Herren stand, blieb mir gar nichts weiter übrig, als hinterher mitten durch die applaudierende Menschenmenge Richtung Bühne zu marschieren, denn gleich hinter mir schloss sich die Gasse wieder. Also nickte ich den Menschen links und rechts fröhlich zu, tat so, als ob ich zur Prominenz gehörte (ist das Anmaßung?) hielt meine Kamera noch ein My höher (wollte ich mich etwa dahinter verstecken?) Du liebe Zeit, dabei wollte ich doch nur ein paar Fotos machen!

Vorne angekommen wurden die Herren an eine Biertischgarnitur begleitet. Nun stand ich ganz vorne an dem blau-weißen Absperrseil, machte meine Fotos, hörte noch ein bisschen dem ersten Redner zu und wollte wieder zurück. Ging aber nicht – alles dicht. Die anderen Menschen wollten auch die Politiker sehen und vielleicht deren Reden noch anhören. Das wollte ich nicht, mir wurde nämlich auf einmal so heiß in dem Gedränge – ich spürte geradezu das Wachsen der kleinen Schweißperlen auf Stirn und zwischen Nase und Oberlippe  – weshalb ich mich nach dem kürzesten Ausgang umschaute und schon in Erwägung zog, neben der Bühne unten durch das Zelt kriechen. Immer noch besser, als sich durch diese Massen durch zu kämpfen oder mangels Sauerstoff oder wegen Überhitzung tot umzufallen – na gut, ich übertreibe – eine Herzkasper zu kriegen. Eine Frau neben mir wollte scheinbar auch raus und guckte sich um. Die Rettung kam in Form eines Kameramanns hoch lebe der Bayrische Rundfunk! Er wurde durch die blau-weiße Absperrung gelassen, die andere Frau und ich schlossen sich ihm erleichtert an. Dadurch gelang es mir, schweißgebadet aber erleichtert wieder zum Ausgang zu kommen. Luft – phhhhhu, das tat gut! Noch ein letztes Foto von hinten in Richtung Bühne und dann nichts wie raus aus dem Brutkasten.

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So war also das Fotografieren von Söder und Friedrich eine ganz heiße Angelegenheit – das muss ich schon sagen.

Mein Mann fragte mich draußen, warum ich die beiden denn unbedingt sehen und fotografieren musste, schließlich kann ich mir doch auch Fotos im Internet angucken und so. Da fiel mir ehrlich gesagt keine Antwort ein. Ich wusste es auch nicht. Mir war eben einfach danach. Und wenn mir wonach ist, dann mache ich es halt – auch wenn ich dabei unter Umständen heiden ins Schwitzten kommen kann. Punkt.

Kindergeburtstage

Jeden Tag um halb 8 machte ich mich auf den Weg in den Kindergarten. Ich hatte meine Brottasche dabei, sie war aus Leder, rot, hatte einen Drehverschluss aus Metall und es passte genau meine Brotbüchse hinein.

Ich brauchte keinen großen Rucksack, obwohl ich einen besaß. Allerdings hieß der Rucksack im Sprachgebrauch der DDR-Kinder „Campingbeutel“. Meiner war aus rot-grau-beige-kariertem Stoff, der Boden, die Verschlussklappe und die Träger waren aus schwarzem Kunstleder. Er wurde nur für Wandertage und Ausflüge hervorgeholt und machte diese damit zu etwas Besonderem.

In der Brotbüchse befanden sich mein Frühstücks- und mein Vesperbrot sowie etwas Obst. Während ich schreibe, erinnere ich mich an den Geruch des Leders meiner Brottasche und daran, dass ich immer meine liebe Not damit hatte, die beiden Teile der nierenförmigen Brotbüchse zu öffnen und zu schließen. Nicht selten lag deshalb mein Brot auf dem Fußboden und die anderen Kinder an meinem Tisch haben mit mir darüber gelacht. Ich habe das Brot aufgehoben, auf meinen Teller gelegt und nach dem Tischspruch aufgegessen, als ob nichts gewesen wäre. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, mein Brot wegzuwerfen, weil es auf dem Boden lag. Was für ein Wunder, dass ich trotzdem noch lebe!

Ich kann mich nicht erinnern, ob es in meiner Kindergartenzeit schon Papiertaschentücher gab. Ich hatte jedenfalls täglich ein sauberes Stofftaschentuch dabei. Weil ich nicht in allen Kleidern eine Tasche hatte, häkelte mir meine Mutter sogenannte „Taschentuchtäschchen“ zum Umhängen. Auch alle anderen Mädchen im Kindergarten hatten solche Täschchen. Ich hatte mehrere in verschiedenen Farben und fand das totschick. Wir haben es tatsächlich fertig gebracht, die ganze Kindergartenzeit zu überstehen, ohne uns an den Schnüren der Täschchen zu strangulieren 😉

Der schönste Tag im Jahr war mein Geburtstag. Ich durfte an diesem Tag ausnahmsweise einmal anziehen, was ich gerne anziehen wollte und nicht das, was mir meine Mutter am Abend zuvor hingelegt hat (diesbezüglich gab es bei uns keinerlei Diskussionen). Meistens suchte ich mir mein Lieblingskleid mit dem dazu passenden Taschentuchtäschchen aus (siehe Foto) und freute mich schon auf den Kindergarten.

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Die Geburtstagsfeier war einfach gestaltet und dennoch so eindrucksvoll, dass ich mich auch nach so vielen Jahren noch gut daran erinnern kann.

Die Kinder saßen im Stuhlkreis um mich herum. Auf dem kleinen Tisch in der Mitte stand ein roter, mit kleinen Blümchen bemalter Holzring mit Kerzen, ein paar Blümchen von der Wiese und eine kleine, aus Papier gefaltete Schachtel, in der ein Luftballon und ein paar Bonbons waren. Ich saß auf dem Geburtstagsstuhl vor diesem Tisch in der Mitte des Stuhlkreises und nacheinander durfte jeder gratulieren und mir etwas wünschen. Es wurde das obligatorische Geburtstagslied „Weil heute dein Geburtstag ist“ gesungen und dann durfte ich mir noch eine Geschichte oder ein Spiel aussuchen (ich habe mich immer für eine Geschichte entschieden) – ach, war das schön!

Zu jedem Geburtstag gab es Kuchen mit Schokoladenguss und bunten Streuseln darauf. An anderen Kuchen kann ich mich nicht erinnern. Und ich glaube, dass die Mütter schon lange vor den Geburtstagen ihrer Kinder in den Kaufhallen nach den bunten Streuseln Ausschau hielten …

Aber das Besondere waren nicht die Geschenke und der Kuchen. Es war einfach so wunderbar, an diesem Tag der wichtigste kleine Mensch in der Kindergartengruppe zu sein und das auch zu spüren.

Viele Jahre später, als ich schon selber meine Ausbildung zur Kindergärtnerin absolvierte, hatte ich während eines Praktikums eine Geburtstagsfeier für ein Mädchen vorzubereiten und zu gestalten. Meine Mentorin sollte meine Leistung im Anschluss mit einer Note bewerten. Die Mutter der kleinen Janina arbeitete übrigens auch als Erzieherin im gleichen Kindergarten.

Ich gab mir sehr viel Mühe, nicht nur weil ich eine gute Note haben wollte. Immer wieder erinnerte ich mich an meine Kindergeburtstage und ließ diese Erinnerungen in meine Arbeit einfließen. Janina fühlte sich als Mittelpunkt und alle Kinder begegneten ihr sehr liebevoll und aufmerksam. Es war eine wunderbare Stimmung in der Gruppe. Während des Höhepunktes der Geburtstagsfeier für Janina, sie durfte sich ein Kind aussuchen und mit ihm zu ihrer Lieblingsmusik tanzen,  ging plötzlich leise die Tür auf und ihre Mutter beobachtete eine Zeit lang unbemerkt von ihrer Tochter das Geschehen. Die Mutter war so gerührt, dass sie Tränen in den Augen hatte. Janina`s  glückliches Gesicht und die Reaktion der Mutter waren meine Bestätigung und haben mich ebenfalls so richtig froh gestimmt.

Keine Ahnung, was ich damals für eine Note bekommen habe. Ich habe es vergessen, weil es nicht wichtig war. Wichtig war, dass es mir gelungen ist, Menschen glücklich zu machen.

Statistik

Wenn ich heute Nacht nicht von Zahlen träume, dann kann ich froh sein. Bei meinem kurzen Mittagsschläfchen ging mir jedenfalls allerlei Zahlenwirrwarr durch den Kopf.

Heute war der Abgabetermin für die Statistik für das Landesamt. Wer jetzt denkt, dass ich bis auf den letzten Drücker damit gewartet habe, der täuscht sich. In den vergangenen Jahren bearbeitete ich die Fragebögen schriftlich, ab diesem Jahr geht das alles nur noch online. Also habe ich mir das schon am Montag vergangene Woche im Internet angeguckt und gleich wieder die Seite zu gemacht. Aber immerhin – ich hatte mal geguckt, was ja ein Anfang ist.

Diese Woche Montag habe ich wieder geguckt und gleich ein bisschen ausprobiert. Ich gab schon mal unsere Telefonnummer ein und die E-Mail-Adresse sowie ein paar andere Daten und speicherte es ab. Dann guckte ich mir alle anderen Seiten an und rümpfelte meine Nase. Nase rümpfeln = Nase hochziehen und zwischen den Augen zieharmonikaartig in Falten legen. Ziehharmonika = sowas wie Schifferklavier, Schifferklavier = sowas wie Akkordeon – alles klaro?

Also ich rümpfelte meine Nase. Diese Mimik bedeutet bei mir im Normalfall Skepsis, in diesem speziellen Falle allerdings mehr Unlust oder im Jargon meiner Söhne: null Bock. Dem gegenüber stand die „Auskunftspflicht nach § 102 Absatz 1 SGB VIII in Verbindung mit § 15 BStatG“ – grrrrrrrrrrrrrrrrrr! Ich analysierte meine Lage und stellte ernüchtert fest: Ich hatte null Bock und null Wahl.

Für solche Situationen habe ich immer eine Tafel Vollmilchschokolade im Tresor. Die habe ich mit einem Ritt nieder gemacht – haha, die hatte keine Chance gegen mich und in nullkommanix war kein Krümchen mehr übrig, meine Stimmung merklich besser und ich suchte mir mit neuem Elan sämtliche Unterlagen zusammen und legte sie parat. Der Anblick war erschütternd! Ich räumte die Unterlagen sofort wieder weg, denn mein Schreibtisch und auch die beiden anderen Ablagen im Büro reichten nicht aus. Kein Wunder bei 139 angemeldeten Kindern und 21 Mitarbeitern in unserer Kindertagesstätte.

Ich brauchte einen Plan. Die Olsenbande hatte auch immer einen Plan. Ich fing also mit dem Personal an. Das war nur ein Ordner. Überschaubar. Nachdem ich mich reingefuchst hatte, ging es ganz gut vorwärts, bis auf es auf einmal *pling* machte und alles weg war. Äh? Was war das denn? Ich guckte auf meinen leeren Bildschirm, das Internet hatte sich verabschiedet, meine ganzen Daten sicher auch, was war da los? Ich drückte ein paar Tasten – nichts – ich drückte auf alle möglichen Tasten, gleichzeitig und ziemlich energisch – wieder nichts – Ich rümpfelte wieder meine Nase, was diesmal „so ein Scheibenkleister“ bedeutete, und rief bei unserer IT-Abteilung an.

„Ja, das kann passieren mit Ihrem neuen VPN-Router, das Problem hatten wir in den anderen Einrichtungen ebenfalls. Na dann fangen Sie eben noch mal von vorne an mit Ihrer Statistik! Was? Sie haben keine Schokolade mehr? Wozu brauchen Sie da Schokolade? Sie ziehen jetzt einfach mal den schwarzen Stecker aus dem weinroten Kästchen. Ja, genau, aus dem VPN-Router. Und nun warten Sie mal ein paar Minuten. Dann stecken Sie den Stecker wieder rein und dann geht das Internet wieder. Ja, das machen Sie jetzt immer so, wenn das Internet sich mal verabschiedet hat. Sicher kann das gelegentlich passieren. Die Daten sind dann weg, klar. Es sei denn Sie haben vorher gespeichert. Danke, Ihnen auch einen schönen Tag! Wiederhören!“

„Naja,“ dachte ich, „da fange ich halt noch mal von vorne an. Solange ich das bezahlt kriege …“

Ich habe schließlich die Statistik in Ruhe, zwar in vielen Stunden Arbeit aber ohne das kleinste Stück Schokolade – gefällig selbst Schulter klopf (hihi) – zuhause gemacht. Meine Fritzbox hat mich nicht im Stich gelassen und nun habe ich wieder ein Jahr lang Ruhe bis zum nächsten Bescheid zur Auskunftserteilung.

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