Schüsse in der Nacht

Es war Anfang der 1980er, Sommer, Semesterferien.

Die Nacht war schon angebrochen und ich lag bei offenem Fenster im Bett. Irgendwo lief noch ein Fernsehgerät. Ich versuchte ein paar Wortfetzen aufzuschnappen und daran die Sendung zu erkennen. Es gelang mir nicht. Dann muss ich eingeschlafen sein.

Ich wachte auf, weil es mehrmals laut knallte. Der Wecker zeigte an, dass ich noch nicht sehr lange geschlafen hatte. Zuerst dachte ich, dass es ein Traum gewesen wäre. Dann knallte es wieder, mehrmals hintereinander und mir wurde bewusst, dass es Schüsse waren. Ich sprang aus dem Bett und schaute zum Fenster raus. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was war passiert? Ging es jetzt los? Nur was genau sollte los gehen?

Man hat uns immer eingeimpft, dass unsere Staatsgrenze vor dem „imperialistischen Klassenfeind“ geschützt werden muss. Die Grenze war nicht weit. Wurden wir angegriffen? Was gab es denn bei uns schon zu holen? Oje, sowas durfte man nicht denken, schon gar nicht, wenn man wie ich auf Kosten des Staates studierte.

Plötzlich begann ein Maschinengewehr zu rattern. Bisher hatte ich dieses Geräusch nur in Filmen gehört. Es hörte sich viel schlimmer an. Furchtbare Bilder aus Kriegsfilmen kamen mir in den Sinn. Ich war unfähig mich zu bewegen. Meine Beine waren wie Gummi. Auch in anderen Häusern in der Straße sah ich nun ein paar Köpfe in den Fenstern, die dann wieder verschwanden. Warum kommen meine Eltern nicht hoch und beschützen mich? Ich hatte solche Angst, fühlte mich hilflos und verwirrt. Die Schüsse, das Maschinengewehr – oder waren es mehrere? – sie waren höchstens ein paar Kilometer entfernt, vermutete ich. Obwohl man sich in der Nacht leicht täuschen kann. Ich glaubte Lichtblitze am Himmel zu sehen. War mir aber nicht sicher. Überhaupt fühlte ich mich nicht mehr sicher.

Ich würde nie hier wohnen bleiben, wenn ich mal Familie und Kinder habe. Die Nähe zur Grenze – das könnte ich ihnen nicht antun. Ewig eingeschränkt durch das Sperrgebiet, immer Militär in der Nähe und dann noch solche nächtlichen, Angst einflößenden Ereignisse! Und keiner sagt einem, was los ist!

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit für mich, dann war mit einem Mal alles wieder ruhig. Als ob nichts gewesen wäre. Es erschien mir unmöglich, mich vom Fenster weg zu bewegen. Ich wusste nicht, ob mich meine Beine getragen hätten. Erst jetzt merkte ich, dass sich meine Finger so fest um das Fensterbrett gekrallt hatten, dass es weh tat. Mein Herz schlug immer noch wie wild und ich glaubte das Blut in meinen Ohren rauschen zu hören. Was auch immer das war, es hatte mir den Schlaf für diese Nacht geraubt.

Am nächsten Tag erfuhr ich, dass es eine Übung war in einem Dorf in der Nähe, Friedenthal, Übungsgelände für die Zivilverteidigung der ehemaligen DDR und wer weiß, wer dort noch geübt hat, nachdem die Einwohner umgesiedelt wurden.

Für mich war diese Nacht ein traumatisches Erlebnis. Sie hat mir noch Jahre danach Albträume beschert.

Heute, am Tag der Deutschen Einheit, musste ich wieder daran denken. Wenn der Schützenverein Hildburghausen beim Umzug zum Theresienfest Böllerschüsse abgibt, dann habe ich längst keine Gänsehaut mehr, weil die Erinnerungen hoch kommen, höchstens Ohrenschmerzen von dem Krach der Schüsse.

 

Stell dir vor, es wäre Krieg

Wir schreiben das Jahr 2021. In Deutschland ist seit zwei Jahren Krieg.

Es wird geschossen, geplündert, gemordet, Menschen verschwinden spurlos, Häuser werden nieder gebrannt, es kommt zu Massakern und Anschlägen. Nicht mal Schulen, Krankenhäuser und andere soziale Einrichtungen bleiben verschont. Keiner ist sich seines Lebens mehr sicher. Betriebe werden systematisch zerstört, eine kontinuierliche Produktion ist nicht mehr möglich, dadurch fehlt es an Allem. Die Mütter haben Angst um ihre Kinder, Familien werden auseinander gerissen, Männer müssen in den Krieg, ob sie wollen oder nicht. Ein normales Leben ist nicht mehr möglich. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln wird zunehmend schwieriger, in den Städten ist die Lage auf Grund der Bevölkerungsdichte bedrohlich. Immer mehr Menschen werden obdachlos, ihre Häuser wurden im Kampf zerschossen und zerbombt. Die Kinder sind total verstört und ängstlich, wachen in der Nacht schreiend auf, wenn in der Ferne Schüsse fallen. Wir haben alle Angst. ANGST!

Aus unserem Bekanntenkreis sind die ersten Menschen umgekommen. Was können wir tun, um zu überleben?Einfach hier weg gehen? Unsere Kinder sind noch klein, wir haben Verantwortung, müssen sie beschützen, für sie sorgen. Ich will nicht, dass mein Mann kämpfen muss und vielleicht sein Leben verliert. Wir wollen als Familie zusammen bleiben. Doch da ist unser Haus und alles, was wir uns in den ganzen Jahren geschaffen haben. Das können wir nicht so einfach aufgeben. Was wird aus unseren Eltern, wenn wir gehen? Ich bin verzweifelt, ratlos, hin und her gerissen.

Wir könnten in ein anderes Land fliehen, wo Frieden ist, wo wir sicher wären, bis dieser furchtbare Krieg ein Ende hat. Andere Menschen aus unserer Stadt sind schon lange weg, weil sie kein zuhause mehr haben und ihr Leben retten wollten. Wir hatten bisher immer noch Hoffnung, dass der Krieg endet. Doch die Hoffnung schwindet, von Tag zu Tag ist weniger davon übrig. Es wird uns nichts Anderes übrig bleiben, wir müssen hier alles aufgeben und zurück lassen, was uns wichtig ist – unsere Heimat verlassen, liebe Familienangehörige, die zu alt sind für die Strapazen einer Flucht und die wir vielleicht nie wieder sehen werden – das ist der schlimmste Gedanke.

Viele Fragen drängen sich mir auf: Reicht unser erspartes Geld für eine Flucht? Wohin sollen wir gehen? Wer hilft uns dabei, denn alle Grenzen sind dicht und eigentlich will kein Nachbarland mehr neue Flüchtlinge aufnehmen? Werden wir es irgendwie schaffen mit den Kindern durch zu kommen? Wie gefährlich wird es sein? Riskieren wir vielleicht sogar unser Leben dabei? Wie lange werden wir unterwegs sein in ein Land, dass uns aufnimmt? Was nehmen wir mit? Wie wird man uns aufnehmen in dem fremden Land? Wird man Verständnis für unsere Situation haben? Wird man uns tolerieren? Wovon werden wir leben? Bekommen wir die Chance, für unseren Unterhalt selbst zu sorgen, indem wir arbeiten und etwas Geld verdienen? Können wir uns gut anpassen und kommen wir mit der Sprache und den fremden Gepflogenheiten zurecht? Werden unsere Kinder Freunde finden? Können wir mit unseren zurückgebliebenen Angehörigen Kontakt halten? Wann wird der Krieg vorbei sein und wir können endlich wieder in unsere Heimat und zu unseren Angehörigen zurückkehren?  

Meine Familie und ich – wir wären dann Flüchtlinge. Es ist erst ein paar Jahre her und ich kann mich gut erinnern wie 2015 und 2016 viele Flüchtlinge aus Kriegsgebieten oder den Balkanstaaten in unser Land und andere Staaten Europas gekommen sind und um Asyl gebeten haben. Unsere Regierung, die Europäische Union und die Bevölkerung wurden auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Es gab viel Solidarität und Empathie. Es gab Ablehnung und Fremdenhass. 

Wie gehe ich damit um, wenn meine Familie Feindlichkeiten ausgesetzt wird oder wenn ihr Gewalt widerfährt, wenn man uns demütigt oder beschimpft? Was ist das größere Übel? Im eigenen Land zu bleiben und in ständiger Angst vor Krieg und Terror zu leben oder in einem fremden Land um Hilfe zu bitten und sich unerwünscht zu fühlen? 

Ich wünschte, dieser Krieg wäre nie gekommen. Dann müsste ich mir nicht solche Gedanken machen, wir könnten unseren Kindern ein glückliches, unbeschwertes Leben bieten, hätten unser Auskommen, würden uns an den Schönheiten unserer Heimat erfreuen – jeden Tag aufs Neue und ganz bewusst. 

Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurück drehen in das Jahr 2015, als in unserem Land noch Frieden war. Ich wünschte, unsere Regierung hätte von Anfang an anders gehandelt und klare Zahlen genannt, was unser Land leisten kann und wo wir an unsere finanziellen Grenzen stoßen. Ich hätte vermutlich auch nicht mehr tun können, ich wäre vielleicht auch sauer gewesen, wenn Flüchtlinge unverschämte Forderungen gestellt hätten und die Regierung einfach nicht reagiert hätte, aber ich würde weniger schweigen zu den Kommentaren mancher Menschen, die überhaupt kein Mitgefühl aufbringen können.

Das Wichtigste jedoch wäre gewesen:

Wir würden leben. IN FRIEDEN LEBEN.

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