Sie nannten ihn Heino

Er kann Geschichten erzählen. Viele Geschichten. Würde er ein Buch schreiben, so hätte es viele Seiten. Hätte er alle Fotos von damals noch … Aber er durfte sie natürlich nicht behalten. Er musste alle abgeben. Sicher wurden sie alle vernichtet, als er 1974 nach zehn Jahren Dienstzeit in ein Leben ohne Befehle, Grenzstreife, Uniform, Waffe und all dem,  was zu seinem bisherigen Alltag gehörte,  zurück ging.

Sie hatten ihn Heino genannt, die vom BGS auf der anderen Seite der ehemaligen Staatsgrenze. Kein Wunder – die Haare semmelblond, seitlich gescheitelt, markante Gesichtszüge, schlank, die dunkle Sonnenbrille – unverkennbar die Ähnlichkeit, da hat man schnell seinen Spitznamen weg. Wenn er mit seiner Kamera an der Grenze unterwegs war zwischen Holzhausen und Eishausen, dann wussten drüben alle bescheid: Aha, der Heino hat wieder Dienst. Nach so vielen Dienstjahren kannte man sich vom Gesicht her. Da flog auch mal eine Schachtel Zigaretten über´n Zaun oder ein paar Worte wurden gewechselt. Jetzt darf man das ja schreiben.

Einmal fragte einer von drüben: „Na? Heut wird wohl nicht fotografiert?“ Heino antwortete: „Nö, heut nicht. Gibt keine Filme.“ Tja, die üblichen Engpässe in der sozialistischen Planwirtschaft …

Irgendwann landete mal ein Hubschrauber auf der anderen Seite. Ein General war an Bord und begrüßte „Heino“ persönlich über den Zaun hinweg. Da hatte es sich also tatsächlich bis ins Hauptquartier des BGS herum gesprochen, dass es einen ostdeutschen Heino gab. Es wurden Filmaufnahmen gemacht. Der General sagte zu Heino, dass er am nächsten Tag im ZDF zu sehen wäre. Natürlich wurde am nächsten Tag West-Fernsehen geguckt, aber es kam nichts. Wer weiß, ob es tatsächlich Aufnahmen gab und wenn ja, ob diese überhaupt noch existieren in irgend einem Archiv der Bundeswehr oder des ZDF… Da fällt mir ein, dass ich bei einem Seminar mal einen vom Fernsehen kennen gelernt habe, vielleicht … hm – mal sehen.

1989 wurde die Grenze geöffnet. Angehörige von Heino fuhren von da an gelegentlich am Sonnabendvormittag nach Coburg. Den Opa, Heino´s Vater, nahmen sie immer mit in den „Westen“ und setzen ihn so lange im Gasthaus „Alter Fritz“ ab. Er brauche sich das alles nicht mehr anzugucken, wie er meinte, schließlich wäre er oft genug „drüben“ gewesen während seines Rentendaseins und „kenne sich aus“, er wolle lieber in der Wirtschaft sitzen und ein bisschen mit den Leuten rumlabern. Das tat er dann auch und wurde beizeiten an einem Stammtisch integriert, wo er erstmal im Mittelpunkt des Interesses stand. Er lud dann auch mal einen Herrn mit seiner Frau zu sich nachhause ein, eine Freundschaft bahnte sich an. Das Ehepaar kam dann gelegentlich zu Besuch und wurde schließlich sogar zum 50. Geburtstag des Schwiegersohnes eingeladen, zu dem natürlich auch Heino mit Familie eingeladen war.

Wie das Leben manchmal so spielt, saßen sich der Heino und der Herr vom Stammtisch aus dem Gasthaus „Alter Fritz“  in Coburg an der festlich gedeckten Kaffeetafel in der guten Stube zufällig gegenüber. Sie guckten sich an. Sie guckten sich sehr genau an. Ein Erkennen spiegelte sich gleichzeitig auf ihren Gesichtern wider. Sie konnten es fast nicht glauben: „Du bist doch der Heino!“ sagte der Herr vom Stammtisch, der ehemals beim BGS war. „Und ich kenn dich auch!“ sagte der Heino. Und dann wurde erstmal einer darauf getrunken.

Zufälle gibt es!

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