„Wenn man rührt, wird`s weniger!“ oder „Was der Bauer net kennt …“

Kindergarten. Ich war so um die fünf Jahre alt. Wir saßen am Tisch, hatten unser Mittagessen im Bäuchlein und gerade wurde uns der Nachtisch in Schälchen serviert. Nachtisch gab es nicht jeden Tag, aber wenn, dann war er für uns Kinder immer das i-Tüpfelchen der Mahlzeit.

Was uns an diesem Tag hingestellt wurde, konnten wir nicht genau deuten. Es hatte die Konsistenz von krümeligem Brei, die Farbe von Milchkaffee, es roch nach nichts und schmeckte … tja, keine Ahnung, denn keiner wollte es probieren.

Als Frau Elstner, unsere Kindergärtnerin, in unsere langen, skeptischen Gesichter sah, meinte sie, dass die Schulküche mal was Neues ausprobiert hätte, irgendwas mit Reis. Wir sollten es doch erst einmal versuchen, bestimmt würde es uns gut schmecken. Aha, es gab also heute etwas NEUES! Auf etwas Neues hatten wir nur leider überhaupt keinen Appetit. Lieber wollten wir Schokoladenpudding mit Vanillesoße oder Erdbeerkompott oder Rote Grütze. Aber das da – nööö, das wollten wir nicht essen. Da waren wir uns einig. Wir stocherten mit unseren Löffeln lustlos in der klebrigen Pampe herum, leckten auch mal daran, zogen heimlich Grimassen und lachten leise hinter vorgehaltener Hand darüber, denn „Beim Essen muss man stille sein, sonst geht nichts in den Mund hinein.“ (wie einer unserer Tischsprüche hieß).

Natürlich war es erwünscht, dass wir alles auf aßen, was wir vorgesetzt bekamen. In den meisten Fällen taten wir das auch, denn das Essen, das in der Schulküche unseres Dorfes gekocht wurde, schmeckte wie zuhause und war wirklich lecker. Nur so ein neuartiges Zeug wie an diesem Tag musste es ja nun wirklich nicht sein.

Als Frau Elstner aus dem Zimmer ging, um die Teller zum Abwaschen runter in die Küche zu bringen, hatte Gernot die rettende Idee. Er verkündete überzeugt: „Wenn man rührt, wird´s weniger!“ Er hatte es scheinbar schon getestet. Denn in seinem Schälchen war tatsächlich weniger drin als in unseren. Also begannen wir alle wie der Teufel mit unseren Löffeln in den Schälchen zu rühren. Die breiartige Masse verteilte sich dabei wunderbar bis zum oberen Rand des Schälchens, so dass es aussah, als wäre wirklich weniger drin und wir hätten davon gegessen.

Das Rühren wurde schlagartig beendet, als wir Frau Elstner die Treppe hoch kommen hörten. Sie schaute in unsere Schälchen, wir schauten in unsere Schälchen und siehe da – oh, Schreck – dieser komische Brei rutschte so nach und nach vom Rande des Schälchens wieder herunter. Plötzlich war wieder fast genau so viel in dem Schälchen drin wie am Anfang. Na, so ein Mist aber auch! Von wegen, wenn man rührt, wird´s weniger! Haha!

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Wir mussten das Zeug natürlich nicht essen. Der Tisch wurde einfach abgeräumt und kein Wort mehr darüber verloren. Scheinbar hat Frau Elstner, als sie unten in der Küche war, selbst mal davon gekostet und es hat ihr auch nicht geschmeckt. Jedenfalls kam in meiner restlichen Kindergartenzeit nie wieder sowas auf den Tisch.

Tja, wie sagte schon mein Opa Hugo: „Was der Bauer net kennt, frisst er net.“

Übrigens: Die Schulküche befand sich im Bedheimer Schloss (schloss.bedheim.de), in dem sich ebenfalls unsere Schule (die Polytechnische Oberschule – kurz POS) befand, in der wir von der 5. bis zur 10. Klasse beschult wurden, bevor 1982 ein Schulneubau in Bedheim errichtet wurde. Es kochten Wally Schippel, Gertrud Schmidt, Lore Schmidt und Marianne Heusinger (vielleicht auch noch andere Frauen, aber ich kann mich nur an diese erinnern) von Montag bis Freitag eine richtig leckere Hausmannskost für Schule, Kindergarten, Kinderkrippe und einige Privatpersonen. Das Essen wurde in Kübeln auf einer kleinen, luftbereiften Kutsche von einer Köchin in den Kindergarten gezogen und dort verteilt. So war es auch noch 1983, nachdem ich meine Ausbildung zur Kindergärtnerin abgeschlossen hatte und in diesem Kindergarten meine beiden Anerkennungsjahre absolvierte und im Anschluss daran bis 1987 angestellt war. Wenn es in der Urlaubszeit mit Personal knapp zuging, kam es vor, dass ich auch mal das Essen für unsere Kinder in der Schulküche holte oder wir gemeinsam mit den Kindern diesen Weg erledigten. Ein Mittagessen kostete damals für ein Kindergartenkind 35 Pfennige am Tag.

Kindergeburtstage

Jeden Tag um halb 8 machte ich mich auf den Weg in den Kindergarten. Ich hatte meine Brottasche dabei, sie war aus Leder, rot, hatte einen Drehverschluss aus Metall und es passte genau meine Brotbüchse hinein.

Ich brauchte keinen großen Rucksack, obwohl ich einen besaß. Allerdings hieß der Rucksack im Sprachgebrauch der DDR-Kinder „Campingbeutel“. Meiner war aus rot-grau-beige-kariertem Stoff, der Boden, die Verschlussklappe und die Träger waren aus schwarzem Kunstleder. Er wurde nur für Wandertage und Ausflüge hervorgeholt und machte diese damit zu etwas Besonderem.

In der Brotbüchse befanden sich mein Frühstücks- und mein Vesperbrot sowie etwas Obst. Während ich schreibe, erinnere ich mich an den Geruch des Leders meiner Brottasche und daran, dass ich immer meine liebe Not damit hatte, die beiden Teile der nierenförmigen Brotbüchse zu öffnen und zu schließen. Nicht selten lag deshalb mein Brot auf dem Fußboden und die anderen Kinder an meinem Tisch haben mit mir darüber gelacht. Ich habe das Brot aufgehoben, auf meinen Teller gelegt und nach dem Tischspruch aufgegessen, als ob nichts gewesen wäre. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, mein Brot wegzuwerfen, weil es auf dem Boden lag. Was für ein Wunder, dass ich trotzdem noch lebe!

Ich kann mich nicht erinnern, ob es in meiner Kindergartenzeit schon Papiertaschentücher gab. Ich hatte jedenfalls täglich ein sauberes Stofftaschentuch dabei. Weil ich nicht in allen Kleidern eine Tasche hatte, häkelte mir meine Mutter sogenannte „Taschentuchtäschchen“ zum Umhängen. Auch alle anderen Mädchen im Kindergarten hatten solche Täschchen. Ich hatte mehrere in verschiedenen Farben und fand das totschick. Wir haben es tatsächlich fertig gebracht, die ganze Kindergartenzeit zu überstehen, ohne uns an den Schnüren der Täschchen zu strangulieren 😉

Der schönste Tag im Jahr war mein Geburtstag. Ich durfte an diesem Tag ausnahmsweise einmal anziehen, was ich gerne anziehen wollte und nicht das, was mir meine Mutter am Abend zuvor hingelegt hat (diesbezüglich gab es bei uns keinerlei Diskussionen). Meistens suchte ich mir mein Lieblingskleid mit dem dazu passenden Taschentuchtäschchen aus (siehe Foto) und freute mich schon auf den Kindergarten.

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Die Geburtstagsfeier war einfach gestaltet und dennoch so eindrucksvoll, dass ich mich auch nach so vielen Jahren noch gut daran erinnern kann.

Die Kinder saßen im Stuhlkreis um mich herum. Auf dem kleinen Tisch in der Mitte stand ein roter, mit kleinen Blümchen bemalter Holzring mit Kerzen, ein paar Blümchen von der Wiese und eine kleine, aus Papier gefaltete Schachtel, in der ein Luftballon und ein paar Bonbons waren. Ich saß auf dem Geburtstagsstuhl vor diesem Tisch in der Mitte des Stuhlkreises und nacheinander durfte jeder gratulieren und mir etwas wünschen. Es wurde das obligatorische Geburtstagslied „Weil heute dein Geburtstag ist“ gesungen und dann durfte ich mir noch eine Geschichte oder ein Spiel aussuchen (ich habe mich immer für eine Geschichte entschieden) – ach, war das schön!

Zu jedem Geburtstag gab es Kuchen mit Schokoladenguss und bunten Streuseln darauf. An anderen Kuchen kann ich mich nicht erinnern. Und ich glaube, dass die Mütter schon lange vor den Geburtstagen ihrer Kinder in den Kaufhallen nach den bunten Streuseln Ausschau hielten …

Aber das Besondere waren nicht die Geschenke und der Kuchen. Es war einfach so wunderbar, an diesem Tag der wichtigste kleine Mensch in der Kindergartengruppe zu sein und das auch zu spüren.

Viele Jahre später, als ich schon selber meine Ausbildung zur Kindergärtnerin absolvierte, hatte ich während eines Praktikums eine Geburtstagsfeier für ein Mädchen vorzubereiten und zu gestalten. Meine Mentorin sollte meine Leistung im Anschluss mit einer Note bewerten. Die Mutter der kleinen Janina arbeitete übrigens auch als Erzieherin im gleichen Kindergarten.

Ich gab mir sehr viel Mühe, nicht nur weil ich eine gute Note haben wollte. Immer wieder erinnerte ich mich an meine Kindergeburtstage und ließ diese Erinnerungen in meine Arbeit einfließen. Janina fühlte sich als Mittelpunkt und alle Kinder begegneten ihr sehr liebevoll und aufmerksam. Es war eine wunderbare Stimmung in der Gruppe. Während des Höhepunktes der Geburtstagsfeier für Janina, sie durfte sich ein Kind aussuchen und mit ihm zu ihrer Lieblingsmusik tanzen,  ging plötzlich leise die Tür auf und ihre Mutter beobachtete eine Zeit lang unbemerkt von ihrer Tochter das Geschehen. Die Mutter war so gerührt, dass sie Tränen in den Augen hatte. Janina`s  glückliches Gesicht und die Reaktion der Mutter waren meine Bestätigung und haben mich ebenfalls so richtig froh gestimmt.

Keine Ahnung, was ich damals für eine Note bekommen habe. Ich habe es vergessen, weil es nicht wichtig war. Wichtig war, dass es mir gelungen ist, Menschen glücklich zu machen.

Die Geschichte von dem riesengroßen Stein

Heute blätterte ich mal wieder in meiner Kindergartenmappe und betrachtete meine kleinen, selbst gestalteten „Kunstwerke“ von damals. Über 45 Jahre alt ist die Mappe schon. An die Entstehung mancher Bilder kann ich mich noch erinnern, zu manchen Bildern fällt mir eine Situation oder eine kleine Geschichte ein. Auf der Rückseite jedes Bildes stehen das Thema sowie das Datum und natürlich mein Name. Ich bin froh, dass meine Kindergärtnerin alle meine Arbeiten so sorgfältig abgeheftet hat.

Kurz bevor wir in die Schule kamen, wanderten wir auf den Kleinen Gleichberg. Das war eine alljährliche Tradition für alle zukünftigen Schulanfänger. Ich kann mich gut an diesen Tag erinnern. Fotos gibt es davon nicht, wir haben am nächsten Tag ein Bild mit Bleistift davon gezeichnet.

Auf meiner Zeichnung ist nicht ein einziges Kind zu sehen, nur der Berg, die Bäume, ein paar Granitsteine der ehemaligen Ringwälle der Kelten (für weitere Steine hatte ich scheinbar keine Lust mehr) und ein besonders großer Stein, der fast so groß war wie ich selbst damals. Der Stein lag ungefähr an der Stelle, wo jetzt die Schutzhütte steht. Weiterhin sieht man noch das Waldhaus und den Stausee. Das waren die für mich wichtigen Dinge, die auf meinem Bild sein mussten.

Nach diesem Wandertag war ich viele Jahre lang nicht mehr auf dem Kleinen Gleichberg. Etwa elf oder zwölf Jahre später bin ich mit meinem Freund wieder hoch gewandert. Schon vorher hatte ich ihm von dem riesengroßen Stein erzählt, an den ich mich noch gut erinnern konnte. Diesen Stein wollte ich ihm unbedingt zeigen, weil er für mich die Erinnerung an einen Tag aus meiner Kindheit symbolisierte.

Als wir an der Stelle ankamen, lag da auch ein Stein. Von groß oder gar riesengroß konnte allerdings nicht die Rede sein. Ich war zunächst etwas verwirrt und enttäuscht und schaute mich um, ob da nicht irgendwo doch noch dieser große Stein läge. Das war natürlich absurd, denn dieser mickrige Stein, der da lag – das war tatsächlich mein riesengroßer Stein von damals, nur ich war inzwischen beträchtlich gewachsen und die Relationen hatten sich ganz einfach geändert.

Mir war das zwar die ganze Zeit bewusst, ich wollte es trotzdem nicht wahr haben. Wir mussten letztendlich herzlich darüber lachen. Den Rest des Tages durfte ich mir jede Menge Gespött anhören: „Pass´auf, dass du nicht stolperst, hier liegen lauter Felsen herum …“ usw.

Immer, wenn wir heute auf den Gleichberg wandern, erzähle ich diese kleine Geschichte.

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