Zur Kartoffelernte im Herbst 1964 fand meine Oma nicht nur jede Menge Kartoffeln auf dem Feld, die sie eifrig in ihren Korb sammelte, zum Einen, um ihrer Arbeit als LPG-Bäuerin nachzugehen und zum Anderen, um den sozialistischen Plan wieder mal über zu erfüllen. Sie fand auch noch etwas ganz Anderes, etwas, was da gar nicht hin gehörte auf so ein sozialistisches Kartoffelfeld – die Reste eines längst nicht mehr sehr ansehnlichen, aber doch noch deutlich als solchen erkennbaren Luftballons. Und das Besondere an ihm war: Es hing ein Kärtchen daran, auf dem etwas stand. Meine Oma war nicht dumm, erfasste rasch die Situation, kombinierte in einem Bruchteil einer Sekunde die Tatsache, der kann nur von „drüben“ sein (Sherlock Holmes wäre höchst beeindruckt gewesen!) und ruck-zuck war das „Corpus Delicti“ unter ihrer Schürze verschwunden.
Ein unauffälliger Blick in die Runde folgte. Hatte sie auch ja keiner beobachtet? Um Himmels Willen, bloß das nicht! Aber die anderen Frauen waren alle in ihre Arbeit vertieft und sammelten mit gebeugten Rücken fleißig Kartoffeln in die sozialistischen Planwirtschaftskörbe. Der Traktorist hatte gerade mit seinem „Pionier“ einen leeren Hänger für die „Erdäpfel“ gebracht und war ebenfalls beschäftigt. Alles gut! Also weiter im Takt der Volkswirtschaft.
Erst am Abend zuhause wurde das Fundstück näher begutachtet und festgestellt, auf dem Kärtchen stand eine Adresse, vermutlich handelte es sich um ein Kind, dass an einem Ballonwettbewerb teilgenommen hatte. Aber die Adresse! Aus dem Westen! Hui, das war ein heißes Eisen und musste deshalb unter strengster Geheimhaltung an einem sicheren Ort aufbewahrt werden, bis ein endgültiger Beschluss über die weitere Verfahrensweise im engsten Familienrat getroffen wurde.
Die Entscheidung war zu treffen zwischen
- Senden einer Antwort an den Absender oder
- dem Vernichten des Ballonrestes und seines Anhanges und so-tun-als-wäre-nix-gewesen.
Variante zwei wäre die für einen im Denken und Handeln sozialistisch geprägten Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik die einzige akzeptable und richtige Verhaltensweise gewesen. Scheinbar waren das weder meine Großeltern noch meine Eltern. Denn dies hätte unverzügliches Handeln voraus gesetzt. Pustekuchen:
Die nächsten Abende wurde beratschlagt, abgewogen, hin und her diskutiert. Man neigte inzwischen dazu, dem Kindchen, das sicherlich auf eine Antwort wartete und vielleicht einen Preis gewinnen würde, zu schreiben. Da gab es nur noch zwei Probleme. Das erste Problem war, dass die Post in den Westen kontrolliert wurde. Daraus ergab sich das zweite Problem. Der Sohn meiner Großeltern war bei den Grenztruppen in Streufdorf, hatte sich freiwillig für 10 Jahre verpflichtet. Wenn die Sache aufflog, würde er dann rausfliegen?
Letztendlich hat meine Mutter dann doch einen Brief geschrieben, ohne Rücksicht auf ihren Bruder zu nehmen. Der Brief kam an und bald eine Antwort aus dem Hessischen mit der Geschichte des Ballons zurück.
Es entstand eine herzliche Brieffreundschaft. Später, als mein Opa Rentner war, besuchte er einmal im Jahr die Familie in dem Dorf in Hessen und Ende der 70er Jahre, wir waren damals zum Glück nicht mehr im Sperrgebiet, besuchten sie uns zum ersten Mal und von da an immer wieder. Nie hätten meine Eltern gedacht, dass so ein Besuch umgekehrt auch mal möglich sein würde, dass der „Eiserne Vorhang“, der Deutschland trennte, noch in diesem Jahrtausend fallen würde – das wusste nur mein Opa, der wusste immer schon alles vorher, dafür hatte er so ein gewisses Gespür … 😉
Als meine Mutter nach der Wende Einsicht in ihre Stasi-Akte beantragt hatte, fand sie bei den Dokumenten u.a. Kopien der ersten Briefe an diese Familie. Also wurden die Briefe tatsächlich geöffnet und gelesen, bevor sie weiter geleitet wurden. Egal aus welcher Richtung sie kamen. Man möchte sich heute noch fremdschämen dafür … Mutti hat natürlich darauf geachtet, was sie geschrieben hat, denn sie wollte ja nicht, dass die Briefe einbehalten und vernichtet wurden. Ihrem Bruder sind nie irgendwelche Schwierigkeiten aus dieser sich anbahnenden Freundschaft erwachsen.
Noch heute sind meine Eltern mit dieser Familie und ihren Angehörigen sehr herzlich verbunden und pflegen den Kontakt. Bei Familienfeiern gehören sie wie selbstverständlich mit dazu.
Was für eine wunderbare Bereicherung unseres Lebens!
Wie schade, dass die Oma schon so früh gestorben ist und das alles nicht mehr erleben durfte. Könnte ich ihr einen Ballon in den Himmel schicken, dann würde ich einfach nur auf das Kärtchen schreiben:
Danke, Oma, wir alle denken an dich!