Stell dir vor, es wäre Krieg

Wir schreiben das Jahr 2021. In Deutschland ist seit zwei Jahren Krieg.

Es wird geschossen, geplündert, gemordet, Menschen verschwinden spurlos, Häuser werden nieder gebrannt, es kommt zu Massakern und Anschlägen. Nicht mal Schulen, Krankenhäuser und andere soziale Einrichtungen bleiben verschont. Keiner ist sich seines Lebens mehr sicher. Betriebe werden systematisch zerstört, eine kontinuierliche Produktion ist nicht mehr möglich, dadurch fehlt es an Allem. Die Mütter haben Angst um ihre Kinder, Familien werden auseinander gerissen, Männer müssen in den Krieg, ob sie wollen oder nicht. Ein normales Leben ist nicht mehr möglich. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln wird zunehmend schwieriger, in den Städten ist die Lage auf Grund der Bevölkerungsdichte bedrohlich. Immer mehr Menschen werden obdachlos, ihre Häuser wurden im Kampf zerschossen und zerbombt. Die Kinder sind total verstört und ängstlich, wachen in der Nacht schreiend auf, wenn in der Ferne Schüsse fallen. Wir haben alle Angst. ANGST!

Aus unserem Bekanntenkreis sind die ersten Menschen umgekommen. Was können wir tun, um zu überleben?Einfach hier weg gehen? Unsere Kinder sind noch klein, wir haben Verantwortung, müssen sie beschützen, für sie sorgen. Ich will nicht, dass mein Mann kämpfen muss und vielleicht sein Leben verliert. Wir wollen als Familie zusammen bleiben. Doch da ist unser Haus und alles, was wir uns in den ganzen Jahren geschaffen haben. Das können wir nicht so einfach aufgeben. Was wird aus unseren Eltern, wenn wir gehen? Ich bin verzweifelt, ratlos, hin und her gerissen.

Wir könnten in ein anderes Land fliehen, wo Frieden ist, wo wir sicher wären, bis dieser furchtbare Krieg ein Ende hat. Andere Menschen aus unserer Stadt sind schon lange weg, weil sie kein zuhause mehr haben und ihr Leben retten wollten. Wir hatten bisher immer noch Hoffnung, dass der Krieg endet. Doch die Hoffnung schwindet, von Tag zu Tag ist weniger davon übrig. Es wird uns nichts Anderes übrig bleiben, wir müssen hier alles aufgeben und zurück lassen, was uns wichtig ist – unsere Heimat verlassen, liebe Familienangehörige, die zu alt sind für die Strapazen einer Flucht und die wir vielleicht nie wieder sehen werden – das ist der schlimmste Gedanke.

Viele Fragen drängen sich mir auf: Reicht unser erspartes Geld für eine Flucht? Wohin sollen wir gehen? Wer hilft uns dabei, denn alle Grenzen sind dicht und eigentlich will kein Nachbarland mehr neue Flüchtlinge aufnehmen? Werden wir es irgendwie schaffen mit den Kindern durch zu kommen? Wie gefährlich wird es sein? Riskieren wir vielleicht sogar unser Leben dabei? Wie lange werden wir unterwegs sein in ein Land, dass uns aufnimmt? Was nehmen wir mit? Wie wird man uns aufnehmen in dem fremden Land? Wird man Verständnis für unsere Situation haben? Wird man uns tolerieren? Wovon werden wir leben? Bekommen wir die Chance, für unseren Unterhalt selbst zu sorgen, indem wir arbeiten und etwas Geld verdienen? Können wir uns gut anpassen und kommen wir mit der Sprache und den fremden Gepflogenheiten zurecht? Werden unsere Kinder Freunde finden? Können wir mit unseren zurückgebliebenen Angehörigen Kontakt halten? Wann wird der Krieg vorbei sein und wir können endlich wieder in unsere Heimat und zu unseren Angehörigen zurückkehren?  

Meine Familie und ich – wir wären dann Flüchtlinge. Es ist erst ein paar Jahre her und ich kann mich gut erinnern wie 2015 und 2016 viele Flüchtlinge aus Kriegsgebieten oder den Balkanstaaten in unser Land und andere Staaten Europas gekommen sind und um Asyl gebeten haben. Unsere Regierung, die Europäische Union und die Bevölkerung wurden auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Es gab viel Solidarität und Empathie. Es gab Ablehnung und Fremdenhass. 

Wie gehe ich damit um, wenn meine Familie Feindlichkeiten ausgesetzt wird oder wenn ihr Gewalt widerfährt, wenn man uns demütigt oder beschimpft? Was ist das größere Übel? Im eigenen Land zu bleiben und in ständiger Angst vor Krieg und Terror zu leben oder in einem fremden Land um Hilfe zu bitten und sich unerwünscht zu fühlen? 

Ich wünschte, dieser Krieg wäre nie gekommen. Dann müsste ich mir nicht solche Gedanken machen, wir könnten unseren Kindern ein glückliches, unbeschwertes Leben bieten, hätten unser Auskommen, würden uns an den Schönheiten unserer Heimat erfreuen – jeden Tag aufs Neue und ganz bewusst. 

Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurück drehen in das Jahr 2015, als in unserem Land noch Frieden war. Ich wünschte, unsere Regierung hätte von Anfang an anders gehandelt und klare Zahlen genannt, was unser Land leisten kann und wo wir an unsere finanziellen Grenzen stoßen. Ich hätte vermutlich auch nicht mehr tun können, ich wäre vielleicht auch sauer gewesen, wenn Flüchtlinge unverschämte Forderungen gestellt hätten und die Regierung einfach nicht reagiert hätte, aber ich würde weniger schweigen zu den Kommentaren mancher Menschen, die überhaupt kein Mitgefühl aufbringen können.

Das Wichtigste jedoch wäre gewesen:

Wir würden leben. IN FRIEDEN LEBEN.

FullSizeRender (11)

Paloma Blanca

Sommer 1975, 8 Wochen Ferienzeit, bevor ich in die 6. Klasse kam. Und ich durfte das erste Mal ins Ferienlager, war ich aufgeregt! Alleine verreisen, zwei Wochen lang, so richtig mit kleinem Köfferchen, „Kulturbeutel“ und Bestecktasche! Die Reise ging allerdings nicht sehr weit, gerade mal bis nach Heubach, nur 30 km von daheim entfernt. Aber egal, ich ging auf Reisen!

Die Betriebe der Eltern boten solche „Ferienlager“ kostenlos für die Kinder der Betriebsangehörigen an. Mein Papa arbeitete damals beim VEB (Volkseigener Betrieb) Bau in Hildburghausen. Klar ging es nicht in Hotels. Das Höchste der Gefühle waren Jugendherbergen. Meistens jedoch handelte es sich um einfachere Unterkünfte wie Zelte, Reihenbungalows oder Baracken, die mit Mehrbettzimmern und Sanitäranlagen auf den Fluren ausgestattet waren. Es gab Vollverpflegung und jeden Tag Unternehmungen. Wir wanderten, gingen ins Schwimmbad, trieben viel Sport und besichtigten alles Mögliche, was die Umgebung für Kinder anbot.

In meinem ersten Ferienlager waren wir in der Heubacher Schule untergebracht. Wir übernachteten auf Luftmatratzen in einem Klassenraum, Mädchen und Jungen natürlich in getrennten Räumen. Der Koffer lag neben der Matratze, mehr Platz war da nicht, es stand höchstens noch ein Stuhl da, ich weiß nicht mehr genau. Es hat uns jedenfalls gereicht, wir waren nicht sehr anspruchsvoll und sowieso nur zum Schlafen in dem Klassenzimmer.

Am Ortsrand von Heubach, oben auf dem Berg, war noch ein anderes Ferienlager. Soweit ich mich erinnern kann, gingen wir jeden Abend geschlossen dort hin, denn da war immer Disko im Freien angesagt. Der deutsche Hit des Sommers war „Paloma Blanca“. Natürlich wurde er mehrmals am Abend gespielt und wir konnten ihn alle mitsingen: „Uh La Paloma Blancaaaaaa …..“

Ich hab damals einen Jungen aus dem anderen Ferienlager kennen gelernt. Harald. Wir haben jeden Abend miteinander getanzt. Ich freute mich den ganzen Tag lang darauf, ihn abends wieder zu treffen. Ach, war das schön! Wir waren „verknallt“ ineinander, so sagten wir damals. Am Sonntag besuchten mich meine Eltern. Eigentlich hatte ich gar keine Sehnsucht und es war mir auch ein bisschen peinlich, aber sie bestanden darauf und andere Kinder bekamen zum Glück auch Besuch. Ich erzählte ihnen von Harald und wurde bestimmt rot dabei. Sie wollten auch den Nachnamen wissen. Natürlich kannten meine Eltern seine Familie (wen kennt mein Papa auch nicht?! -lach). So erfuhr ich, dass er in meinem Heimatort Verwandtschaft hatte, noch dazu eine Cousine, die ausgerechnet in meine Klasse ging. Das fand ich prima, so würde sich auch ein Kontakt nach dem Ferienlager möglicherweise etwas einfacher gestalten können …

Am letzten Abend tauschten wir unsere Adressen aus. Schon eine Woche nach dem Ferienlager bekam ich einen Brief von ihm. Der wurde mir aber erst am Abendbrottisch vor der ganzen Familie feierlich übergeben. Alle guckten mich erwartungsvoll an, als ich ihn öffnete und dann sollte ich ihn auch noch laut vorlesen. Das war mir vielleicht unangenehm! Schließlich war das doch MEIN Brief. Ich fügte mich aber und las laut vor. Der Brief war nicht lang. Aber den einen Satz vergesse ich nicht: „Ich muss immer an dich denken, wenn im Radio Paloma Blanca gespielt wird.“

Heute Abend hat mein Mann eine aufgezeichnete „Hitparade“-Sendung vom September 1975 im Fernseher angeschaut. Da kam das Lied und mit ihm die Erinnerungen …

http://www.youtube.com/watch?v=iUqpXV7vch8

Foto 19.10.14 19 01 29